DIE AUFNAHMEPRÜFUNG
Auszug aus dem Buch „Als ich gestorben war“
Nun hatten wir den Militärdienst hinter uns und gondelten wieder nach Westsibirien zurück. Jetzt hatten wir uns möglichst schneller an den von uns gewählten Hochschulen zu bewerben und auf die Aufnahmeprüfungen vorzubereiten, denn der Sommer ging schnell dahin. Ende Juli trafen wir uns bei mir in der Stadt, um alle nötigen Vorkehrungen für die bevorstehenden Prüfungen zu treffen. Wir konnten zwar einander nicht helfen, weil wir doch grundverschiedene Kunstrichtungen gewählt hatten, aber wir konnten uns zumindest moralisch unterstützen, indem wir uns einfach durch unsere Anwesenheit gegenseitig den Rücken stärkten.
Peter war gleich nach der ersten Prüfung durchgerasselt, seine kleine Gipsfigur habe einen Sprung bekommen, hieß es. Dies konnte nur über Nacht geschehen sein, denn als Peter sie am Vorabend eingepackt hatte, war sie unbeschädigt. Da war ich mir völlig sicher. Das wurde auch als Grund der Ablehnung angegeben. Aber wir beide waren der Meinung, dass das nur ein Vorwand war, um ihm den Weg zum Hochschulabschluss zu versperren. Denn die Figur des Mädchens mit der dicken Flechte über der rechten Schulter sah doch, abgesehen von dem kleinen Riss auf der Wange, tadellos aus. Ich tröstete ihn, wie ich konnte. Er könne es ja im nächsten Jahr noch einmal versuchen, es sei ja noch nicht aller Tage Abend.
Tags darauf hatte nun ich vor der Aufnahmeprüfungskommission zu stehen und nach ihrer Pfeife zu tanzen. Ich wurde als letzter in den Prüfungsraum eingeladen, alle anderen Abiturienten hatten schon teils jauchzend, teils grollend den Exekutionsplatz verlassen. Peter blieb im Korridor stehen und beobachtete durch den schmalen Türspalt, wie ich meinen Rollentext herunterleierte und wie mich die klugen Damen und Herren nachher schikanierten. Wir hatten vorher beschlossen, dass wir, wenn auch ich durchfalle, allen zum Trotz dieser verdammten Gegend den Rücken kehren und zum hohen Norden auf irgendwelche Goldfelder ziehen werden. Das war damals der einzig mögliche Protest, der uns einfallen konnte.
Als ich vor der hohen Kommission meinen Monolog heruntergeleiert hatte, kam es zu einer Verlegenheitspause. Alle Kommissionsmitglieder hatten die Nasen in ihre Bewerberlisten gesteckt und warteten ab, bis sich der Vorsitzende meldete. Dieser ließ sich aber Zeit. Er wühlte erst eine Weile in seinen Papieren rum, nahm dann die Brille ab, putzte sie umständlich mit einem Taschentuch, räusperte sich kräftig und sagte endlich: „Mnja-a... Stimme, Aussprache – in Ordnung ... Tonfall, Ausdrucksweise – meinetwegen, nichts einzuwenden. Aber wo bleibt die Mimik, die Gestik? Wo bleibt die Körperhaltung? Die Körpersprache?! Die Dynamik der Darbietung?! Das ist doch das A und O jeder Schauspielerkunst ... Nun gut, ich will Ihnen doch noch eine Chance geben. Sehen Sie hier diese goldene Taschenuhr? Ein sehr teures Geschenk von meinem Kriegskameraden. Sie werden wohl verstehen, dass ich sie nicht verlieren möchte. Aber wenn es Ihnen gelingt, in Gegenwart der ganzen Kommission sie mir zu entwenden, bekommen Sie die allerbeste Zensur. Wenn aber nicht, dann eben „Good bye!“, wie es so schön heißt. Aufgabe klar?“
Solch ein selbstzufriedenes Grinsen hatte ich weder vorher noch nachher irgendwo gesehen. Die Kommissionsmitglieder kicherten und schmunzelten vergnügt.
Eine dumpfe Wut stieg in mir hoch. Mein erster Gedanke: Nichts wie weg von hier! Hier war nichts mehr zu holen. Was der Mann sich ausgeheckt hatte, konnte für mich sowieso nur ein Fiasko sein. Die Uhr? Wie soll ich ihm diese verdammte Uhr klauen, wo doch alle ... Wie viele waren’s denn? Vier ... Also alle acht Augen unabwendbar darauf gerichtet waren. Ja, und die meisten trugen noch eine Brille, was die Augenzahl fast verdoppelte. Vergebliche Liebesmühe nur, also ihr könnt mich mal...
Ich wollte mich schon zum Gehen wenden, um mich wortlos zu empfehlen, aber da durchzuckte mich plötzlich ein lausbübischer Gedanke. Warum sollte ich es nicht doch einmal versuchen und alles auf eine Karte setzen? Da war aber ein enormes Kapital an Frechheit nötig. Aber ich hatte ja nichts zu verlieren. Ich ließ meinem Blick noch einmal über die Gesichter der Kommissionsmitglieder gleiten. Am Tischrand, gleich mir gegenüber, saß eine jüngere schlanke Dame mit angenehmem Äußern. Sie sah mich mit ihren gutmütigen Augen ab und zu über ihren Brillenrand kummervoll an. Sie schien mit mir zu sympathisieren, aber auch Mitleid zu haben. Aber in diesem Moment war für mich sogar ein warmes Mitgefühl ohne Bedeutung. Wenn ich etwas erreichen wollte, musste ich gegen alle ohne Ausnahme äußerst rigoros vorgehen, ohne Ansehen der Person. Neben der netten Frau saß ein hagerer Herr mit einem übermäßig langen Hals und einem unglaublichen Lötkolben im Gesicht. Solch einen Gänserich aus dem Gleichgewicht zu bringen, war kein leichtes Stück Arbeit. Gleich zu seiner Linken thronte Er selbst – der Allmächtige, der immer das letzte Wort zu sagen hatte. Das war die härteste Nuss, die ich zu knacken hatte, denn die füllige Blondine neben ihm nahm ich schon nicht für voll, irgendwie war ich mir sicher, dass sie als erste ausflippen würde.
Ich holte tief Luft, um gleich darauf alle meine theatralische Wortkunst und emotionsgeladene Körperhaltung voll zum Einsatz zu bringen. Ich tat zwei Schritte vor, stemmte meine beiden Pranken vor der netten Dame auf den Tisch, beugte mich zu ihr hinab und legte im steigendem Tempo los, wobei ich fast nach jedem Wort mit der flachen Hand auf den Tisch knallte:
„Sie, liebe Genossin, sind übrigens gar kein schlechter Mensch. Sie haben sogar ein ganz niedliches Frätzchen und könnten auf der Bühne eine echte Rampensau abgeben. Und Sie sind zur Liebe geboren und nicht zum Abschlachten von jungen Menschen, die gern studieren möchten. Sie haben kein Herz in Ihrer Brust, Sie haben einen eiskalten Stein darin...“
Ihr Nachbar mit dem mächtigen blauroten Zinken im Gesicht war zunächst vor Überraschung sprachlos, dann sprang er empört auf und zischte:
„Was erlauben Sie sich, Sie Schnösel, Sie ... Sie ... Lassen Sie sofort die Dame in Ruh!“
Ich rückte zu ihm hinüber, ohne die Hände vom Tisch wegzunehmen. Ich durchwühlte seine Papiere und fuchtelte vor seiner überdimensionalen Nase herum:
„Sie, unbegabtes Nashorn, sollten überhaupt den Mund halten. Sie sind ein Talentkiller! Und wissen Sie auch, warum? Weil Sie stets die anderen beneiden, die es besser können. Und Sie haben ja selbst schon jahrelang keine Bühne betreten. Weil man Ihnen wegen Ihres Aussehens immer nur negative Rollen verpassen wird. Weil Sie auf der Bühne nur die gefährlichsten Diebe und Halunken der Weltliteratur spielen dürfen. Weil Sie eben auch im Leben ein Halunke sind...“
Vom rechten Ende des langen Tisches schallte ein gellender Schrei herüber:
„Nei-ein! Das ist doch un-erhö-ört!“
Die dickliche Dame wurde, wie ich auch vermutet hatte, totenblass und rang nach Fassung. Und gleich darauf knallte der Prüfungsvorsitzende mit der Faust auf den Tisch und brüllte wie ein gereizter Löwe, während sein Gesicht scharlachrot anlief und seine Stimme vor Wut in die Fistel kippte:
„Raus! Raus von hier, Sie widerliches Scheusal!“
Aber ich stand schon direkt vor ihm und schmiss seine Unterlagen auseinander:
„Und Sie sind der allergrößte Gauner! Sie sind der Anführer dieser Räuberbande! Sehen Sie sich doch mal alle genau an!“ Ich deutete mit dem Finger mal nach links, mal nach rechts auf jeden Einzelnen: „Diese da, dieser und auch diese! – alles Schwindler, Hochstapler, Talentkiller!“
„Verlassen Sie sofort den Raum, sonst lass ich die Miliz holen!“
„Gut, gut, ich bin schon weg! Good bye, Towarischtschi!“
Ich drehte mich rasch um und preschte zum Ausgang.
Peter, der das alles miterlebt hatte, war kreidebleich und sah mich mit missbilligendem Blick an:
„Wozu dieses Theater? Machst doch nur alles noch schlimmer. Und letzten Endes hast du noch die Miliz auf dem Hals ...“
„Die können mir gar nichts antun“, sagte ich in gelassenem Ton.
„Sei nur nicht so sicher! So was ist für die ein gefundenes Fressen.“
„Aber die wollten es doch selbst so haben, die haben mich provoziert...“
Ich griff in die Tasche und holte die Uhr hervor, die goldene Uhr, die der Genosse Vorsitzende nicht vermissen wollte. Peter machte ein langes Gesicht: „Du hast es wirklich geschafft?“
In diesem Augenblick flog die Tür auf, und die nette Dame sagte mit rotem Gesicht und flackernder Stimme:
„Genosse Wagner, Sie sollen bitte noch einmal reinkommen!“
Wir schmunzelten beide. Bei diesem Anblick verzog sich auch der Mund der jungen Dame zu einem leichten Schmunzeln, aber sie war immer noch so sehr aufgeregt, sodass daraus ein breites Grinsen wurde. Ich schob mich an ihr vorbei und trat mit reuevollem Gesichtsausdruck vor den Prüfungstisch.
„Ich bitte Sie alle tausendmal um Entschuldigung“, hörte ich mich mit vor Aufregung belegter Stimme sagen. „Ich wollte keinen von Ihnen beleidigen, aber Sie haben mir eine solche schwierige Aufgabe gestellt, dass ich gezwungen war, das zu tun. Übrigens war’s gar nicht böse gemeint.“
Ich legte die Uhr auf den Tisch, sagte „Leben Sie wohl!“, wandte mich um und ging eiligen Schrittes zur Tür.
„Aber wo eilen Sie denn hin?“, hörte ich die Stimme des Kommissionsvorsitzenden. „Sie haben doch gewonnen, wir haben Ihnen, wie versprochen, die beste Zensur erteilt. Und diese Uhr gehört jetzt Ihnen.“
Ich war schon viel zu erschöpft, um mich noch weiter mit den in Verlegenheit geratenen Leuten zu unterhalten, und bedankte mich kurz für die gute Zensur. Aber